Alpinklettern Wilder Kaiser, Limit #2 © Michael Meisl I Climbers Paradise Blog

Wilder Kaiser – Tradition verpflichtet

„Der Wilde Kaiser ist heute vielleicht das am besten gekannte und am stärksten besuchte Hochgebirge der Alpen. Diesen Vorzug dankt es seiner wilden Schönheit, seinem Reichtum an prachtvollen Klettereien und seiner günstigen Lage. Man hat es den Dolomiten Südtirols gleichgestellt. In mancher Hinsicht mag das zutreffen; dem Auge, Gemüt bietet es mehr.“

So schreibt Georg Leuchs 1911 in seinem Führer durch das Kaisergebirge.

Headerbild: Der Kopftörlgrat auf die Ellmauer Halt gilt als eine der berühmtesten Überschreitungen der Ostalpen. Gebi Bendler und Iris Krafka dürfen die herrliche Kletterei bei Kaiserwetter genießen.

 

Heute ist es nicht mehr das meistbesuchte Gebirge der Alpen. Dafür sind wir Menschen zu mobil geworden. Damals aber, als die Eisenbahn noch als das Verkehrsmittel erster Wahl galt, gab es kein schneller zu erreichendes Felsenziel vor den Toren Münchens. Leuchs kam übrigens auch aus München. Der Mediziner hat im Wilden Kaiser große Spuren hinterlassen. Sogar ein Gipfel – der Leuchsturm – trägt seinen Namen. Zahllose Wände und Routen hat er um 1900 erstbestiegen. Die berühmteste davon ist zweifelsohne der Kopftörlgrat. Diese abwechslungsreiche Kraxelei im unteren vierten Schwierigkeitsgrad gilt neben dem Jubiläumsgrat auf die Zugspitze als die famoseste Gratüberschreitung der gesamten Nördlichen Kalkalpen. Über sechs Türme geht es zum höchsten Gipfel des Gebirges, der Ellmauer Halt. Dabei präsentiert sich die Route wie der Aufbau eines klassischen Dramas: Exposition, Steigerung, Höhepunkt.

Den Auftakt bildet eine bizarre Felsformation, ein wie mit der Axt geradlinig gespaltener Turm, durch dessen enge Kluft der Weg zum Einstieg führt. Danach wird im leichten, aber sehr exponierten Schrofengelände aufgewärmt, bis jeder folgende und konstant höher werdende Turm einen vor immer noch größere Schwierigkeiten stellt. Im dramatischen Crescendo werden die Töne zum Höhepunkt hin immer lauter, ebenso schnauft Iris im letzten Kamin zum Gipfel am lautesten. Nicht nur, weil sie bereits 1.400 Klettermeter zurückgelegt hat, sondern, weil dort im fiesen Finale die Schlüsselstelle lauert.

Gleich wird es leichter. Christian „Hechei“ Hechenberger sucht nach einem Ausweg aus dem anspruchsvollen Plattenpanzer der Route „Sportherz“ an der Vorderen Karlspitze. Die Schlüsselstelle im achten Grad liegt hinter ihm.

Shadow on the Wall. Lokalmatador Christoph Widauer führt die 6. Seillänge (7+) von „Sportherz“. Dieser Sportkletterklassiker wurde im Jahr 1985 von oben eingebohrt, was damals zu heftiger Kritik führte. Eine Alpintour müsse von unten erstbegangen werden, lautete die allgemeine Meinung.

„Nicht schlecht, dass der Herr Dr. Leuchs schon 1900 im Alleingang hier raufgeklettert ist“, sagt Iris anerkennend. Die junge Allgäuerin ist das erste Mal im Wilden Kaiser und daher mit einem einheimischen Bergführer unterwegs. Die Wegfindung durch das Labyrinth aus Kaminen, Platten und Türmen ist alles andere als trivial. Haken, die den Weg weisen, gibt es kaum. Standplätze müssen die Aspiranten meist selbst basteln. Im Gegensatz zu den eher leichten Kletterschwierigkeiten liegt darin und in der Länge die Krux der Tour. Immer wieder müssen im Sommer Bergretter ausrücken, um Kletterer zu bergen, die den Grat unterschätzen. „Geführt aber ist das Ganze ein herrlicher Genuss. Da bleibt auch noch Zeit, um auf historische Spurensuche zu gehen. Denn hier im Kaiser wurde Geschichte geschrieben, hab’ ich auf Wikipedia gelesen“, erklärt Iris. Tatsächlich ist der Wilde Kaiser, der sich bescheidene 20 Kilometer in Ost-West Richtung erstreckt, ein vergleichsweise kleines Gebirge. Doch, wenn es um die Kletterhistorie geht, da kommt er ganz groß raus.Nirgendwo sonst wurden auf so kleinem Raum so große Kapitel der Alpingeschichte verfasst wie hier.

Der „Koasa“, wie der Gebirgszug liebevoll von den Einheimischen mit kehligem Tiroler „ck“ bezeichnet wird, ist ein einziges Geschichtebuch des Alpinismus, und eine ganz fette Schwarte noch dazu.

Hier haben sich die großen Namen des Klettersports im sportlichen Konkurrenzkampf verglichen und verewigt: Tita Piaz, Hans Fiechtl, Hans Dülfer oder Paul Preuss setzten bereits vor dem Ersten Weltkrieg neue Maßstäbe und revolutionierten den Sport. Genau hier und nirgendwo anders. Nicht umsonst bezeichnete man das Gebiet als die „deutsche Hochschule“ des Klettersports. In diesem Laboratorium des Bergsteigens fanden sie die Idealbedingungen für ihre Experimente vor. So probierte Otto Herzog damals in der Fleischbank Ostwand erstmals überhaupt einen Karabiner als Sicherungsmittel aus. Hans Dülfer perfektionierte den „Dülfersitz“, eine nach ihm benannte Abseiltechnik, die bis in die 1960er-Jahre State of the Art blieb. Und die ersten Bohrhaken der Alpen? Wo wurden sie wohl erstmals eingesetzt? Oder die erste mit 7 bewertete Kletterroute der Welt? Wo findet sie sich? Und wo konnte Stefan Glowacz 1993 mit der Route „Des Kaisers neue Kleider“ die seinerzeit schwierigste alpine Sportkletterei der Welt eröffnen? So schwer ist das Quiz doch gar nicht, oder?

Steep enough. „Hechei“ in der mit 8 bewerteten Schlüsselstelle der „Sportherz“. Nach der Sanierung ist die Route an den schweren Stellen mit Klebehaken gut gesichert. In den leichteren Passagen ist aber der gekonnte Umgang mit mobilen Sicherungsmitteln erforderlich.

Reich an Gegensätzen

Iris hat es geschafft. Ihr Blick gleitet vom 2.344 m hohen Gipfel der Halt nach Süden: „Einfach wunderschön dieser Kontrast. Hier die abschreckenden und zugleich anziehenden Zacken und Zinnen, eine schaurig schöne Felsenwüste. Und dort drüben die sanften Mugel der Kitzbüheler Alpen mit den saftig grünen Almwiesen. Ein herrliches Spannungsfeld!“, kommentiert sie. Der „Koasa“ ist überhaupt reich an Gegensätzen. Das beginnt schon bei der Felsstruktur: hier eine geschlossene Platte, dort ein offener Riss. Hier ein abweisender Kamin, dort ein einladender Grat. Wie in kaum einem anderen Gebiet treffen im Koasa Tradition und Moderne aufeinander ohne einen Widerspruch zu bilden. Für jedefrau und jedermann ist etwas dabei.

Wer sanft sanierte historische Kletterdenkmäler der Marke Dülfer, Buhl, Rebitsch und Co. besichtigen möchte, kann sich im „Koasa“ an einem der zahlreichen Klassiker erfreuen. Hier wird die größte Klassikerdichte Tirols, wenn nicht der Welt garantiert! An den Standplätzen und an neuralgischen Stellen wurden die rostigen Schlaghaken durch sichere Bohrhaken restauriert. Dazwischen ist jedoch eigenverantwortliche Absicherung gewünscht und gefordert. Wer es weniger nostalgisch mag, für den gibt es im Schneekar, am Leuchsturm oder an der Karlspitze unzählige, bestens abgesicherte moderne alpine Sportklettereien in feinstem Fels. Und jedes Jahr kommen neue hinzu.

Scary. Simon Berger klettert die stark überhängende und brüchige Schlüsselseillänge des Südpfeilers (9-) als Erster frei. 1963 im Zeitalter des technischen Kletterns eröffneten Seppi Spöck und Jürgen Vogt diese futuristische Route, die schnurgerade in der Linie des fallenden Tropfens am Pfeiler emporzieht.

Kontrastreich wie nirgendwo sonst in Tirol ist auch die Schwierigkeitsgradtabelle. Im „Koasa“ finden sich die schönsten und leichtesten Grate Tirols (bekannt unter dem Namen „Kaiser hoch 6“) quasi neben den schwierigsten alpinen Sportklettereien Tirols. Von UIAA 2 bis UIAA 11- ist alles vertreten – ein weiterer unique selling point, der für das Gebiet spricht. Wieder im Tal angekommen, richtet Iris ihren nun stolzen Blick nach oben. Ihre Hand umfasst keinen warmen Kaiserfels mehr, sondern ein eiskaltes Kaiserbier. Der Kopftörlgrat silhouettiert im Abendrot. „Jede Metropole würde die Ellmauer ob dieser natürlichen Skyline beneiden“, bemerkt sie schmunzelnd. „Auf Herrn Dr. Leuchs! Prost!“

Was für ein Pfeiler. An der Maukspitze im Ostkaiser wurde Klettergeschichte geschrieben. Hermann Buhl konnte dort 1943 die Westwand erstbegehen. Der originale Buhlquergang wurde erst 2011 wiederholt. Mit von der Partie bei dieser Wiederholung war auch Christian „Hechei“ Hechenberger, der gemeinsam mit Simon Berger den Pfeiler mustert. Dieses Mal wollen die beiden aber ein anderes geschichtsträchtiges Abenteuer angehen: den Südpfeiler.

Lebendiger Geschichteunterricht. Das Originalmaterial der Erstbegeher aus den 1960er-Jahren findet sich noch in der Route. Die Holzkeile werden inzwischen mit Friends ergänzt.

Auf die vielen rostigen Schlaghaken in der Tour müssen sich die Wiederholer aber nach wie vor verlassen. Denn viele Bohrhaken finden sich nicht in der Tour.

LIMIT #2: Alpinklettern in Tirol – die druckfrische Ausgabe!

In diesem Heft haben wir uns ganz dem Alpinklettern in Tirol gewidmet. Auf 136 Seiten präsentieren wir die beeindruckende vertikale Vielfalt Tirols. Mit spannenden Storys aus 15 Kletterspots, die einen tiefen Einblick in die Geschichte des alpinen Kletterns in Tirol bieten.

 

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