Rofan – Alpiner Mikrokosmos

Auch wenn der größte See Tirols kein Meer ist – obwohl er gerne augenzwinkernd so bezeichnet wird –, bietet er viele, viele maritime Wassersportmöglichkeiten. Aber viel mehr noch offerieren die Berge drumherum: Auf kleinstem Raum findet die Kletterin hier alles.

„1001 Möglichkeit“, schwärmt Bettina. Sie kommt oft hierher zum Klettern, lebt sie doch nur wenige Kilometer entfernt im benachbarten Kramsach. Ihr Blick schweift ins Tal. Dort breitet sich in der Farbpalette wechselnd zwischen smaragdgrün und ultramarinblau der Achensee aus. Wobei ausbreiten den Sachverhalt falsch darstellt. Denn der See zieht sich vielmehr in die Länge. Über 9 km erstreckt er sich bei einer maximalen Breite von 1 Kilometer von Süd nach Nord, eingebettet zwischen zwei fetten Klettergebieten: dem Karwendel im Westen und dem Rofan im Osten. Aufgrund seiner länglichen Form inmitten einer archaischen Gebirgslandschaft liegt der Vergleich mit einem Fjord auf der Hand. Ein Glücksfall für jeden Werbetexter.

Beginnen wir mit der Rotspitze im Rofan, wo Bettina und Sarah gerade die Route „Wahnsinnskante“ hinter sich gebracht haben und nun das Gipfelpanorama genießen. Warum die Wahnsinnskante so heißt, wie sie heißt, muss jede für sich selbst herausfinden. Der Wahnsinn – oder sagen wir es etwas schlichter: 1 A – ist an der Rotspitze jedenfalls nicht nur der Ausblick, sondern auch die angenehme Auffahrt mittels Aufstiegshilfe, die ein außergewöhnliches Angebot anbietet: Alpinklettern mit Ausschlafen.

Außerdem 1 A – das Ambiente: ausdrucksstarker Abgrund unterm Allerwertesten trifft auf absolute Abwesenheit von Angst aufgrund ausgezeichneter Absicherung. Weiters 1 A: Der Abstieg ohne abtörnendes Abseilen, das atemberaubende Abendrot – eine Augenweide.

Rofan – Alpiner Mikrokosmos, Limit #2. © Michael Meisl I Climbers Paradise

Mit Ecken und Kanten: Niemand ist perfekt. Doch gerade das Kantige macht eine starke Persönlichkeit aus und verleiht Ausstrahlung. Die „Wahnsinnskante“, 1959 von H. Kogler und J. Santner erstbegangen, verleiht nicht nur der Rotspitze besondere charakterliche Eleganz, sondern dem gesamten Gebiet.
Bettina Ritter in der 2. Seillänge (Foto links).

Aber am allerbesten sind die Anstiege der Altmeister: Die ausgesprochen attraktiv abgesicherte „Alte Südwand“ von 1917 oder die Rebitschkante. Wahnsinn, was der 1931 noch junge Altmeister Hias Rebitsch mit filzbesohlten „Kletterpatschen“ alles klettern konnte. Damals bewertete er die Route mit 5, später wurde sie auf 6- aufgewertet, wobei sich so mancher 7er im Klettergarten heute leichter anfühlt. Noch dazu stecken heute auf den ersten 10 Metern mehr Haken, als Rebitsch in der gesamten Tour verwendete. Hut ab!

Nirgendwo sonst liegen modernes alpines Sportklettern und klassisch geprägtes Abenteuerklettern so dicht beieinander wie hier im Rofan.

Wer perfekten Kalk mit perfekter Absicherung liebt, kommt am Klobenjoch auf seine Kosten. Wer weiter gesicherte Wasserrillen an einem zu Stein gewordenen Wasserfall mag, ist an den Issplatten richtig. Wer Eigenverantwortung als Inbegriff der Freiheit sieht und sich um die Absicherung komplett selbst kümmern will, kann an den bis zu 400 Meter hohen Nordwänden von Seekarlspitze, Rosskopf und Rofanspitze sein Glück finden oder an der Ostwand vom Sagzahn.

Rofan – Alpiner Mikrokosmos, Limit #2. © Michael Meisl I Climbers Paradise
Weitblick Sarah Stenico muss sich auf den nächsten Zug in der „Wahnsinnskante“ konzentrieren. Wir konzentrieren uns auf den Wahnsinnsausblick: Links hinten die 3.000er der Stubaier Alpen, rechts das Karwendelgebirge.

Hier ist die Absicherung genauso schlecht wie die Besucherfrequenz. Was den Freiheitsliebenden wohl besonders gefällt. Wild und einsam sind die Attribute für diese Ecken des Gebietes. Weniger schön ist es dort aber nicht. Ganz im Gegenteil! Und mit dem 1923 erstbegangen „Ypsilon-Riss“ wartet an der Seekarlspitze sogar einer der großen Pauseklassiker im sechsten Grad auf mutige Wiederholer. Wer nicht ganz so kühn ist, aber gerne dem historischen Sightseeing frönt, kann vom Achensee 5-Gipfel Klettersteig – Seekarlspitze einen Blick auf die letzte Seillänge des felsgewordenen Denkmals werfen. Nur wenige Meter links davon kann man sich über Eisenklammern und Stahlseil etwas gemütlicher, aber nicht weniger exponiert emporhangeln – 400 Meter über dem saugenden Abgrund.

„Wasser und Berge. Die Kombination wirkt wohl besonders inspirierend.“

Rofan – Alpiner Mikrokosmos, Limit #2. © Michael Meisl I Climbers Paradise
Ja, wo ist er denn der Griff? Sarah sucht Halt in der dritten Seillänge der „Wahnsinnskante“ (7).

Über dem See türmen sich Cumuluswolken auf, die auf ein drohendes Unwetter hindeuten. Zeit, die lange Gipfelrast auf der Rotspitze zu beenden, um noch trocken die letzte Bahn zu erwischen. Bettina blickt noch ein letztes Mal zum See. „Wasser und Berge. Die Kombination wirkt wohl besonders inspirierend“, meint sie. Denn die Gegend des Achensees bietet nicht nur 1001 Klettermöglichkeiten, sondern auch 1001 Sagen und Naturerzählungen – fast wie im alten Orient. Einst soll sich dort, wo sich jetzt der See ausdehnt, ein stattliches Dorf befunden haben. Aber die Einwohner desselben waren so gottlos, dass der Herr ein nicht enden wollendes Gewitter schickte und ihr Dorf flutete. „Wenn du genau schaust, siehst du noch den Kirchturm im Wasser durchblitzen“, erzählt sie schmunzelnd. Ende!

LIMIT #2: Alpinklettern in Tirol – die druckfrische Ausgabe!

In diesem Heft haben wir uns ganz dem Alpinklettern in Tirol gewidmet. Auf 136 Seiten präsentieren wir die beeindruckende vertikale Vielfalt Tirols. Mit spannenden Storys aus 15 Kletterspots, die einen tiefen Einblick in die Geschichte des alpinen Kletterns in Tirol bieten.

 

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